Es war erst im September 1901, als durch die Entdeckung von zwei ähnlichen Höhlen wie Altamira, nämlich Les Combarelles und Font de Gaume bei Les Eyzies in der Dordogne in Südfrankreich, gleichartige Kunstwerke der Eiszeit aufgedeckt wurden, so daß, wie gesagt, in den Jahren 1902 und 1903 Altamira allmählich seine Anerkennung finden mußte. Das Werk über Altamira erschien 1906, und auch da noch war es ein Wissen nur unter Gelehrten. Eine neue geistige Welt, eine neue Welt der Kunst war aus der Erde getreten, aber die Kunstleistung war zu gewaltig, zu entwickelt im künstlerischen Sinne, zu sehr durchgebildet in der Gestaltung, als daß sie in das Weltbild der damaligen Zeit gepaßt hätte. Wohl wurden immer neue Höhlen mit Malereien aus dieser Epoche gefunden, alle in Südfrankreich und Nordspanien, aber noch bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, bis 1914, war diese Entdeckung nicht in das Geschichtsbild des europäischen Menschen eingetreten. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, von 1920 ab, fingen Kunstgeschichte und Kulturgeschichte, Religionsgeschichte und Philosophie an, sich auch mit diesen Denkmälern, den ältesten der Menschheit, zu beschäftigen.
Heute, sind hunderte Höhlen mit Malereien und Gravierungen bekannt, und da manche Höhlen hundert, manche, wie Lascaux, tausend Bilder enthalten, beruht unser Wissen um die Kunst und Kultur der Eiszeit jetzt auf der Kenntnis von viertausend Malereien und ebenfalls viertausend ausgegrabenen Kunstwerken.
Daß in den nördlicheren Gebieten Europas Wandmalereien oder Wandgravierungen bisher nicht gefunden worden sind, ist verständlich Der Eisrand der letzten Eiszeit lag etwa bei Hannover. Das Klima war kalt, und nur in wenigen Sommermonaten stieg es bis auf etwa zehn Grad Wärme. Die Landschaft im mittleren und südlichen Europa war wie die der "Tundra", der Steppe. Es fehlten die Bäume, es wuchsen nur Moose, Zwergbirken und Zwergkiefern. Die Menschen waren Jäger, der Ackerbau, die Viehzucht, die Töpferei waren noch nicht erfunden. Der Mensch lebte mit den Tieren und von den Tieren, von dem, was die Natur ihm bot. In den Gegenden, in denen es natürliche Höhlen gab, wie in den Bergen von Südfrankreich und Nordspanien, fand der Mensch seine Unterkunft in den Eingängen der Höhlen, sie gewährten ihm Schutz vor der Witterung. Er hatte aber auch seine Zelte, aufgerichtet aus Tierfellen und Steinen, die die Felle hielten. Der Mensch durchstreifte große Räume, um den Tieren zu folgen. So kam er auch sicher an den Rand des Eises, dahin, wo die kälteliebenden Tiere lebten. Deutschland hat eine Fülle von Fundplätzen des Menschen der Eiszeit gut ausgegraben und sorgfältig erforscht. In dreizehn Höhlen haben sich auch Kleinkunstwerke gefunden, Gravierungen von Tieren auf Knochen und Steinen. Der Mensch der Eiszeit hat also auch das heutige Deutschland durchstreift, genau so wie Südengland und Nordfrankreich. Aber seine Kultstätten, die Höhlen mit den heiligen Bildern, mit den Anrufungen an die Gottheit, blieben in der klimatisch günstigeren Gegend, in Südfrankreich und Spanien. So sind eigentlich Wandbilder an den Höhlen im deutschen Raume nicht zu erwarten, und trotzdem gibt es ein einziges Bild, die Steinzeichnung eines Steinbockes im Altmühltal bei Essing in der Nähe von Kelheim.
Es war am 22. Mai 1937, als in der Höhle "Kleines Schulerloch" zwei Männer dieses Bild zu gleicher Zeit als erste erkannten. Es waren der Justizinspektor Alexander Oberneder aus Kelheim und der Präparator Oskar Rieger.
Wieder ist die Geschichte der Entdeckung wie ein Märchen, ähnlich wie in Altamira. Rieger hatte schon einige Zeit in der Höhle gegraben, aber nie die Gravierung, die Steinzeichnung, beachtet. Man sieht sie nur, wenn das Licht einer Lampe auf die Zeichnung fällt. Das Bildwerk war von Algen bedeckt, die beiden Forscher wischten die Algen weg und erkannten sofort die Bedeutung des Fundes. Rieger stellte einen Abguß her und sandte ihn nach München an die Vor- und Frühgeschichtliche Staatssammlung. In München lebte damals der Vorgeschichtsforscher Ferdinand Birkner. Er war Professor an der Universität und kannte den Fundplatz, denn er hatte schon im Jahre 1915 in der benachbarten Höhle "Großes Schulerloch" gegraben. So reiste er sofort nach Kelheim zusammen mit dem bedeutenden Kenner der Vorgeschichte Hugo Obermaier, damals Professor für Vorgeschichte an der Universität Madrid. Obermaier hatte zusammen mit Abbe Henri Breuil die wichtigsten Grabungen und Entdeckungen eiszeitlicher Bildwerke in den Höhlen von Spanien durchgeführt. Er war also an diese Bilder besonders gewöhnt, er war ein Spezialist für die Kunst der Eiszeit. Auch Prof. Friedrich Wagner von der Staatssammlung München war zur Besichtigung gekommen und auch der Entdecker Oskar Rieger. Alle diese Forscher stellten fest, daß die Ritzlinien die gleichen Verwitterungserscheinungen aufweisen wie der ganze Felsen. Das Tier wurde bestimmt als ein Steinbock mit einer Tierfalle, eine Verbindung, die auch in Spanien und Frankreich sehr häufig ist. Sie bedeutet, daß das Tier durch das Bild magisch wie durch einen Zauber in die Falle getrieben wird und so in die Hand der Jäger gelangt. An der Echtheit konnte also gar nicht gezweifelt werden. Niemand hatte das Bildwerk vorher bemerkt, die besten Forscher haben es sofort besichtigt und haben in wissenschaftlichen Zeitschriften, vor allem im IPEK, dem Jahrbuch für Prähistorische und Ethnographische Kunst, 1938, und in den Bayerischen Vorgeschichtsblättern, ebenfalls 1938, über die Entdeckung berichtet.
Die Tatsache, daß eine Gravierung der Eiszeit an einer Höhlenwand in Süddeutschland gefunden wurde, war zwar neuartig, aber gar nicht unwahrscheinlich, weil Obermaier selbst wenige Jahre vorher in derselben Gegend, etwa dreihundert Meter gegenüber, in der Höhlengruppe Klausen, drei Kunstwerke ausgegraben hatte. Sie lagen in einer Schicht des mittleren Magdalenien und gehören so der Zeit etwa 25.000 bis 15.000 v. Chr. an. Die Originale sind nach Paris gekommen, weil das Institut mit dem Namen "Institut de Paleontologie Humaine" in Paris, eine Stelle, an der damals Obermaier Professor war, die Grabung durchgeführt hatte. Das beste Bildwerk dieser Ausgrabung, an der ein bayerischer Forscher, Fraunholz, beteiligt war, ist die Ritzzeichnung eines Mammuts auf Elfenbein. Eine andere Zeichnung ist ein Wildpferdkopf, die dritte eine Maske.
Aber wie es so oft bei den Entdeckungen eiszeitlicher Kunst geschah, wurde auch hier die Echtheit bezweifelt, und zwar im Jahre 1951 Dann wurden auch noch Ritzerscheinungen unter dem Bild entdeckt, und sie stellten sich als germanische Schriftzeichen des 7. nachchristlichen Jahrhunderts heraus. Die Zeichen konnten auch gelesen werden. Die Zeichen ergeben:
"birg leub seibrade"
Das erste Wort ist ein Name Birgit oder Brigitte, "leub" bedeutet so viel wie "lieb", und "selbrade" ist wieder ein Name. Die Inschrift ist also so zu lesen: "Birgit liebt Selbrade". Es ist eine Liebesinschrift, wie man sie auch heute an Bäumen, an Bauten, an Denkmälern findet. Und nun kam der Gedanke auf, dann müsse auch die Ritzung des Steinbockes und der Tierfalle dem 7. Jahrhundert n. Chr. angehören.
Dieser Schluß ist jedoch ein Fehlschluß. Die Ritzarten des Tierbildes und die der Schriftzeichen sind verschieden, beide gehören ganz anderen Zeitepochen an.
Die Ritzzeichnung des Steinbocks ist geschaffen in dem schwingenden Stil des späten Magdalenien, in einem Stil, der in wenigen treffenden Strichen die Umrisse des Tieres wiedergibt, besonders die entscheidenden Elemente, das Gehörn, den Vorderteil des Kopfes, die Schnauze. In sicherer Linienführung ist das Hinterbein gegeben, die schwingende Bahn der Rückenpartie und die Vorderseite. Die Falle und die Andeutung einer weiblichen Gestalt unter dem Tier, die Fruchtbarkeit beschwörend, gehören in die gleiche Epoche der Eiszeit.
Dieses Bildwerk ist bisher das einzige Wandbild eiszeitlicher Kunst auf deutschem Boden. Die Schriftzeichen ergeben mit Sicherheit, daß das Bild alt ist. Denn gerade dort, wo sich alte Bilder finden, werden später Inschriften angebracht. Viele Höhlen der Malerei der Eiszeit in Frankreich und Spanien tragen auf den Bildern Inschriften späterer Epochen. So ist es auch hier. Die Inschrift bestätigt also das Alter des eiszeitlichen Bildes. Das Bild ist nur dreizehneinhalb Zentimeter breit, aber der Strich ist fest, sicher und klar, so wie er auch in Frankreich und Spanien bei den Bildwerken der gleichen Epoche erscheint. Dieser Steinbock muß also von den Menschen der Eiszeit geschaffen worden sein, die im Süden Europas lebten, die dort ihre Fundplätze hatten und die in den wärmeren Epochen des Jahres an den Rand des Eises aufbrachen, um dort die Tiere zu jagen. Einer dieser Jäger, vielleicht der Zauberer selbst, hat hier im Kleinen Schulerloch dieses Bildwerk geschaffen. Es bleibt uns Heutigen nichts, als es mit Ehrfurcht und Achtung zu betrachten und es zu bewahren für die Generationen, die nach uns kommen.
Das Kleine Schulerloch ist nicht touristisch. Ein Abguß der Gravur ist im Museum bei der Tropfsteinhöhle Schulerloch ausgestellt. Farbe und Größe entsprechen genau dem Orginal.
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Zuletzt aktualisiert am 10.02.2017