In der alten niederländischen Stadt Haarlem, etwa 20 km von Amsterdam entfernt, steht der älteste Museumsbau Hollands, das Teyler-Museum. Pieter Teyler van der Hulst war der Eigentümer einer blühenden Seidenspinnerei gewesen. Als er 1778 kinderlos starb, hinterließ er sein Vermögen einer Stiftung, die seinen Namen tragen und der Förderung der christlichen Religion sowie der Kunst und den Wissenschaften für die Allgemeinheit dienen sollte. Schon zwei Jahre nach Teylers Tod wurde 1780 neben seinem Wohnhaus der Grundstein für einen eigenen Museumsbau gelegt, der in seinem Kern noch heute unverändert steht und für sich schon als museales Objekt, als Denkmal, gelten kann.
Neben den Kunstsammlungen, dem Münzkabinett und dem Naturkundekabinett erlangte besonders im 19. Jahrhundert das Mineralogisch-Paläontologische Kabinett durch Ankäufe wertvoller Fossiliensammlungen eine hervorragende Bedeutung. So nimmt es nicht wunder, daß in dieser Zeit auch viele Solnhofener Versteinerungen ins Teyler-Museum gelangten, darunter Insekten, Tintenfische, Krebse, Fische und Flugsaurier. 1860 kaufte das Museum von dem Frankfurter Paläontologen Hermann von Meyer einen unscheinbaren Fossilrest an, der im Jahre 1855 in einem Steinbruch in Jachenhausen bei Riedenburg im Altmühltal entdeckt worden war. Hermann von Meyer hatte den Fund 1857 kurz beschrieben und als Pterodactylus crassipes benannt. Eine genauere Beschreibung und Abbildung dieses vermeintlichen Flugsaurierrestes veröffentlichte H. v. Meyer 1859. Das Fossil war fortan im paläontologischen Kabinett des Teyler-Museums ausgestellt und zwar, wie sich nach über hundert Jahren zeigen sollte, unter falschem Namen. Es handelte sich nämlich um nichts geringeres als einen, wenn auch sehr unvollständigen Urvogel, der hier unbeachtet seinen Dornröschenschlaf hielt.
Es war der 8. September 1970, als der amerikanische Geologie-Professor und Saurierforscher John H. Ostrom mit Untersuchungen an Solnhofener Flugsauriern des Teyler-Museums in Haarlem beschäftigt war. Die Solnhofener Platten mit den Skelettresten des Pterodactylus crassipes wollten indes nicht so recht in das Bild passen, das man sich von einem Pterodactylus, also einem kurzschwänzigen Flugsaurier machte. Vor allem waren die Knochen der Hinterbeine zu kräftig, ein Umstand, der schon H. v. Meyer aufgefallen war und ihn veranlaßt hatte, den lateinischen Artnamen "crassipes", Dickfuß zu wählen. Auch undeutliche Eindrücke auf der Gesteinsoberfläche hatten v. Meyer verwirrt, da er schrieb: "An keinem Pterodactylus habe ich Erscheinungen, die man den Falten der Flughaut beizulegen geneigt ist, deutlicher wahrgenommen, als an diesem. Allein selbst hier kann ich sie nicht für das halten, wofür man sie gern ausgeben möchte, weil sie, abgesehen davon, daß der Flugfinger sich nicht in der Nahe vorfindet, für Hautfalten, zumal in gepreßtem Zustande, nicht scharf und bestimmt genug ausgedrückt sich darstellen. Diese Erscheinung wird daher nur in den Unebenheiten des Bodens und den Bewegungen des Wassers, woraus sich das Gebilde absetzte, ihren Grund haben". Bei schräger Beleuchtung offenbarten sich diese schwachen Eindrücke im Gestein für John Ostrom allerdings als Federeindrücke. Ein Vergleich der Skelettreste mit den anderen Urvogel-Exemplaren ließ keinen Zweifel mehr: Der Pterodactylus crassipes des Teyler-Museums in Haarlem war kein Flugsaurier, sondern ein Archaeopteryx.
Dieses auch heute noch im Teyler-Museum ausgestellte Haarlerner Exemplar besteht nur aus zwei kleinen Kalkplatten, auf denen positiv und negativ Knochen oder Abdrucke der linken Hand und des Unterarmes, des Beckens, beider Hinterbeine und Füße und einige sogenannte Bauchrippen, eine Besonderheit der Urvögel sich finden. Das übrige Skelett ist offenbar bei der Bergung der Platten verlorengegangen. Die natürlichen Gelenkverbindungen, wie zum Beispiel die Kniegelenke, zeigen ganz klar, daß das Skelett dieses Archaeopteryx bei seiner Einbettung noch nicht zerfallen war. Es muß sich also um ein ziemlich vollständiges Exemplar gehandelt haben.
Trotz seiner Unvollständigkeit bietet auch das Harlemer Exemplar Besonderheiten. So sind die kräftigen, scharfen Krallen der Finger sehr schön erhalten. Sie tragen noch ihre Hornscheiden, die sie zu stark gekrümmten, nadelspitzen Klauen gemacht haben. In der Größe ist der Haarlerner Urvogel mit dem Londoner Exemplar vergleichbar. Es ergeben sich auch sonst, soweit das aufgrund der wenigen Reste beurteilt werden kann, keine Unterschiede, weshalb auch dieses Exemplar als Archaeopteryx lithographica zu bezeichnen ist.
Tatsächlich war also dieses Fossil der erste Überrest eines Urvogels, den man entdeckte, ohne daß damals jemand in der Lage war, ihn als solchen erkennen zu können, 5 Jahre vor der ersten Feder von Solnhofen und 6 Jahre vor dem ersten Skelettfund, dem Londoner Exemplar von der Langenaltheimer Haardt. Für den Wissenschaftler von grösserer Bedeutung war jedoch, daß er auch schon gültig benannt worden war. Nach den strengen Regeln, die für die wissenschaftliche Benennung von Tieren, lebenden oder fossilen, angewendet werden müssen, hat der erste für eine Art vergebene Name die Priorität und ist deshalb gültig. In diesem Falle wären die Urvögel als "Archaeopteryx crassipes" zu bezeichnen. Da sich aber die Bezeichnung "Archaeopteryx lithographica" seit mehr als hundert Jahren eingebürgert hatte und die gebräuchliche ist, wurde auf Antrag von der für solche Fragen zuständigen Internationalen Kommission von Zoologen entschieden, daß hier eine Ausnahme von den Regeln zugelassen wird und die Urvögel weiterhin den Namen Archaeopteryx lithographica führen dürfen.
Zuletzt aktualisiert am 10.02.2017